Im interview mit Prof Thomas Elbert

Prof Thomas Elbert ist einer der Gründer der Narrativen Expositionstherapie und wurde für seine Errungenschaften im Bereich der Psychotraumatologie vielfach ausgezeichnet. Im Interview berichtet er über seine persönlichen Erfahrung während der Entstehung der Narrativen Expositionstherapie und warum diese Intervention auch in Brasilien wirksam gegen Gewalt und dessen Folgen eingesetzt werden kann.

Thomas Elbert als junger Forscher bei einem diagnostischen Interview im nordugandischen Flüchtlingscamp Imvepi.

Wie kam es zur Entwicklung von NET?

Ende der 90iger Jahre arbeitete Maggie Schauer für Ärzte ohne Grenzen (MSF) in einem Flüchtlingslager im Kosovo. Mehr als 20 000 Menschen kamen dort zusammen, und nicht allen war mit Zelt und Lebensmitteln zu helfen.

„Ausgezehrt, psychisch beeinträchtigt, sexuell traumatisiert – es waren so viele, die häufig auch immer wieder in Ohnmacht fielen, aber dann von den Ärzten mit ‘vital signs normal’ an mich weitergereicht worden waren“ erinnert sich Maggie Schauer, die heute an der Universität Konstanz lehrt und Forschungsprojekte leitet.

Hinweise auf vergangene körperliche Erregung oder Gefühle und Gedanken der Hilflosigkeit an erfahrene Gewalt konnte bei den traumatisierten Personen wahlweise Alarm und Panik oder das Schwinden der Sinne bis hin zur Ohnmacht auslösen.

Thomas Elbert (links), Frank Neuner (mitte), Maggie Schauer (rechts)

Im gleichen Zeitraum arbeitete Frank Neuner (heute Professor am Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Bielefeld) mit Überlebenden von Folter, die ähnliche Reaktionen aufwiesen. Viele waren politisch engagiert und hatten den Drang über das Geschehene zu berichten, wobei die Therapeuten damals nicht gut verstanden, warum dies den Überlebenden nicht gelingen konnte. Sie verstanden nicht, dass die Wunden, das Trauma und die Angst letztlich nicht zuließen, die entscheidenden Punkte ihrer Geschichte zu erzählen. 

Die Erstellung einer Narration war für diese Formen organisierter Gewalt menschenrechtlich geboten. Empathie, Akzeptanz und Kongruenz waren für Frank wie für Maggie selbstverständlich. Ob dies auch therapeutisch hilfreich sein würde, wurde derzeit in meiner Arbeitsgruppe intensiv diskutiert. Frank verwies auf positive Effekte, wenn es möglich gemacht wurde, dass ein ehrliches Zeugnis abgelegt wird. So war es an der Zeit, bestehende Dogmen ohne wissenschaftliche Evidenz über Bord zu werfen: Man dürfe nicht an das Trauma rühren, man müsse Betroffene stabilisieren, ihre Emotionen regeln,... — Inzwischen alles wissenschaftlich widerlegte Behauptungen, die nichtsdestotrotz auch heute noch einen prominenten Platz einnehmen, aber oftmals doch nur aus der Angst vor der Angst.

Die Erstellung einer Narration würde Menschenrecht unterstützen, aber würde sie auch denen helfen, die durch die Hölle gegangen waren? Es gab kein Angebot an die Betroffenen, keine andere Wahl als es zu versuchen. Der Erfolg im Lager in Mazedonien, den Maggie erzielen konnte war beeindruckend. Personen, die zuvor immer wieder in Ohnmacht gefallen waren, konnten beginnen an eine Zukunft zu denken. Und so waren wir ermutigt systematischere Schritte zu gehen, zunächst vor allem mit traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland, da für diese eine konsistente Narration die Voraussetzung für die Anerkennung ihrer Schutzbedürftigkeit war.

Wie kam es zu den Studien in afrikanischen und asiatischen Krisenregionen?

 In den neunziger Jahre erzählten uns Elisabeth Kaiser und Unni Karunakura von Ärzte ohne Grenzen (MSF) von ihrer Arbeit mit Flüchtlingen aus dem Südsudan. Es gab damals keine verlässlichen Zahlen über die Häufigkeit traumatischer Stressoren und deren Auswirkungen auf seelische und körperliche Gesundheit unter den verschiedenen Bedingungen. Gemeinsam mit „Dr. Unni“, dem späteren Präsidenten von MSF und Elisabeth, damals bei der UN, haben wir in einer Untersuchung an 3.323 geflüchteten Erwachsenen in sechs verschiedenen Flüchtlingslagern in Uganda, feststellen müssen, dass Folgen von traumatischem Stress dauerhaft Leiden und Funktionseinschränkung in ganzen Gemeinden bedingen können. Je mehr lebensbedrohliche Ereignisse berichtet wurden, desto schlimmer war das Ausmaß. Wir haben das dann Bausteineffekt genannt, denn wie Stein auf Stein bauen zunehmende traumatische Erfahrungen Pathologie auf. 

Das Leid in Kriegs- und Krisenregionen, das uns täglich von den Medien berichtet wird, berührt uns kaum. Aber wenn man, so wie wir, vor Ort Zeuge dieses Horrors geworden ist, dann kann man nicht untätig bleiben. Und so haben wir die erste kontrollierte klinische Studie zu NET in einem Flüchtlingslager in der Westnil-Region Ugandas durchgeführt.  Dazu haben wir monatelang in dem Lager gelebt.  Ein Jahr später sind wir zurückgekehrt, um die Personen wieder zu befragen.  Der jeweilige Untersucher wusste nicht, in welcher Behandlungsgruppe der Klient denn gewesen war.  Erst haben wir die Überlebenden in den Lagern untersucht – das Ergebnis war deprimierend, denn den Leuten und ihren Familien ging es noch schlechter, viele verharrten dort tatenlos, einige waren verstorben. Die Essensrationen waren auf 20% des Bedarfs gekürzt worden und wer zu viel Angst hatte, keine Energie und kein Glück, um die dortigen miesen Felder zu bewirtschaften, verelendete.  Wir waren am Boden zerstört, denn wir wussten zu diesem Zeitpunkt ja nicht, dass diejenigen, die NET erhalten hatten, überwiegend das Lager verlassen hatten. Diejenigen in den Kontrollgruppen blieben dort zurück – sie hatten Angst, das Lager zu verlassen, waren funktionsuntüchtig geblieben!  Erst als wir diejenigen erreicht hatten, die sich außerhalb des Lagers getraut hatten eine Existenz aufzubauen und endlich die Verblindung aufheben konnten wurde der große Erfolg der NET sichtbar. 

Somalia mit prominenter Hilfe von Michael Odenwald und Sri Lanka mit Claudia Catani waren weitere Kriegsgebiete, in denen wir früh einerseits der Bausteineffekt andererseits die Wirksamkeit von NET belegen konnten. Es gab viele exzellente junge Forscherinnen, die sich trauten, mit uns neue Wege zu beschreiten, auch wenn die Anfeindungen zum Teil recht erheblich, ja mitunter existentiell bedrohend waren. Hier verdanken wir Brigitte Rockstroh, dass sich die Universität bis heute stets hinter die wissenschaftliche Erarbeitung von Befunden gestellt hat. Auf Maggies Initiative haben wir das erste Holocaust-Symposium zu diesem Thema auf deutschem Boden organisiert. Überlebende, die berichteten, kamen erstmals nach Deutschland zurück. 

Hoffnung keimte, umfassend helfen zu können. Diese Hoffnung hat sich bis heute für tausende erfüllt, aber auch das waren letztlich nur lokale Tropfen auf die allzu vielen heißen Steine. Aber diese Hoffnung lebt weiter und hat mit der Entwicklung von NETfacts neue Nahrung bekommen. In den letzten Jahren gelang es Anke Köbach, Katy Robjant und Sabine Schmitt die NET auf die Gemeindeebene zu verbreiten, um so das Schweigen in der Gemeinschaft zu unterbrechen und gesellschaftlich heilvolle Prozesse in die Wege zu leiten. Mit diesem Ansatz aus Individualtherapie und paralleler sozialer Veränderung lassen sich Gemeinschaften, ganze Dörfer zurück in friedliche Funktionstüchtigkeit holen.

NETfacts moderiert durch ein Team lokaler NET-Therapeuten und Vertretern des Dorfes. Gemeinsam entscheidet die Dorfgemeinschaft über Gewalterfahrungen, die von besonderer Relevanz oder Häufigkeit waren und/oder sind. In Einzelsitzungen können Betroffene ihrer eigenen Ereignisse aufarbeiten. In der Gemeinschaft werden stereotype Erfahrungen geschildert und diskutiert um so zu einem allgemein akzeptierten Konsens für den Umgang mit Opfern und Tätern und aktuellen Geschehnissen zu finden.

Wo kann NET helfen?

Überall dort, wo Bedrohungen für Leib und Leben den Menschen und die Gemeinschaften schädigen, überall dort, wo Grauen und durchlebter Horror aus der Vergangenheit die Gegenwart nicht verlassen will, kann NET helfen. Die Therapie kann und will das Erlebte nicht ungeschehen machen, aber sie will das geschehene Unrecht dokumentieren, es beim Namen nennen, die Verletzten würdigen und daraus resultierendes Leid lindern. Das gilt für organisierte Gewalt, wie in Krieg und Folter genauso wie für familiäre Gewalt.

Warum ist NET grade für Brasilien relevant?

 Häusliche Gewalt, also körperlicher und sexueller Missbrauch sowie die gleichermaßen toxische Vernachlässigung, vor allem die emotionale Vernachlässigung, sind nirgendwo auf der Welt selten.  Wenn dann noch hohe Kriminalität und organisierte Gewalt hinzukommt, entfaltet der sogenannte Bausteineffekt seine volle Wirkung: die einzelnen Erlebnisse schmieden sich zusammen zu einem „Schloss des Grauens“ (Castello del terrore). Und so sehen wir gerade auch in Brasilien massive Folgen von traumatischen Erfahrungen.  Aber anders, als in den „failed States“, den Staaten ohne verlässliche Infra- und Organisationsstruktur, verfügt Brasilien über das notwendige Human Capital, also über ausbildungswillige Personen mit gutem Bildungshintergrund und über Strukturen in die therapeutische Maßnahmen eingebettet werden können. 

Wenn es gelingt, in einer größeren Zahl Narrationen zu erstellen, kann katastrophales Leid sichtbar gemacht werden und Verständnis für die Betroffenen geweckt werden.  Hilfe wird sich dann nicht nur auf Behandlung konzentrieren sondern in einem gesellschaftlichen Prozess auch präventive Maßnahmen stimulieren. So wird ein Kreislauf von Funktionserholung und Gewaltverhinderung in Gang gesetzt, der vielleicht eines Tages die Spaltung der Gesellschaft überwinden und für alle zu einem besseren Leben führen kann.